Zeit formt Gefühle
Warum sollte es mir mit meinem Online-Tagebuch anders gehen, als damals mit dem physischen Tagebuch? In den ersten Tagen schreibt man täglich hinein, und dann kommt der Alltag dazwischen mit Terminen und Zeitmangel.
Ich bin immer wieder überrascht, wieviel Zeit für ganz alltägliche Dinge ins Land geht. Gestern Morgen hatte ich einen Vorsorgetermin bei meiner Gynäkologin in Köln. Zwanzig Kilometer Entfernung sollten eigentlich keine allzu großen zeitlichen Probleme verursachen, es sei denn, man benötigt für diese Entfernung schlappe 70 Minuten mit dem Auto. So lange dauerte es nämlich, bis ich mich durch Köln ans Ziel gekämpft hatte. Grauenvoll. Ich würde ja mit der Bahn fahren, aber das ist genauso grauenvoll und auch nur unwesentlich schneller. Kurz gesagt: Ein halber Tag war dahin. Tschüss Zeit, hallo Stress!
Das Tagesgeschäft musste ich dann innerhalb von zwei Stunden erledigen (inklusive Mittagessen), bevor ich mit dem Sohn zum St. Martinszug seiner Schule ging. Das letzte St. Martinsfest in der Grundschule. Und schon wieder ist es der Faktor Zeit, der für Gefühlswallungen sorgt, diesmal: Tschüss Zeit, hallo Wehmut.
As time goes by …
Irgendwie tut es weh, wie schnell die Zeit verfliegt. Das eigene Altern ist dabei gar nicht so wesentlich. Viel schwerer zu verkraften finde ich, dass mein Kleiner so rasend schnell groß wird. Beim ersten St. Martinszug war er drei Jahre alt. Sein erstes Kindergartenjahr. Und er wollte unbedingt von Haustür zu Haustür gehen und singen. Alleine! Da stand er nun vor einer fremden Haustür. Dieser kleine Kerl mit Pudelmütze und dicker Steppjacke. Der Laternenstab inklusive Laterne fast so groß wie er selber. Und als sich die Tür öffnete, begann mein Kleiner ganz alleine sein Martinslied zu singen. Bis zum Schluss. Der Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte, standen Tränen der Rührung in den Augen. Sie ging in die Knie, und als das kleine Männlein fertig gesungen hatte, musste sie sich erst einmal sammeln. “Das war das schönste Martinslied, das ich je gehört habe”, sagte sie. “Ich wünsche dir, dass du dein ganzes Leben lang dieses Selbstbewusstsein behältst und anderen so viel Freude bereitest, wie mir gerade. Danke für dein schönes Lied!” Und dann flog dem Gatten und mir auch plötzlich etwas ins Auge, bis sie tränten. *hüstel*
Und jetzt? Jetzt hängen bereits so viele selbstgebastelte Laternen in unserem Keller. Vier Schuljahre, die in Lichtgeschwindigkeit vorbeizogen. Noch ist die kindliche Freude am Laternenbasteln und dem Martinssingen da. Noch darf ich nach dem Umzug mit ihm von Haus zu Haus gehen und zuhören, wie er Martinslieder singt – immer noch mit der gleichen Inbrunst und dem Selbstbewusstsein, wie damals als Dreijähriger. Vielleicht ist das das letzte Mal. Vielleicht ist er nächstes Jahr schon zu cool für “so einen Kinderkram”. Ich hoffe es nicht, denn ich habe von diesem letzten Grundschul-St. Martin keine Fotos.
Wie ist dein Blickwinkel?
Vor lauter Terminstress und Laternenbastelgedöns vergaß ich nämlich mein Smartphone zuhause, wo es brav am Ladekabel hing. Ich hatte keine Zeit mehr, um es zu holen, denn die Klassen stellten sich bereits auf für den St. Martinsumzug. Und so kam es, dass ich nicht mit den anderen Eltern die Zeit, während die Kinder mit dem Martinszug unterwegs sind, am Glühweinstand verbrachte, sondern mich am Schluss in den Martinszug einreihte und mitging. Ganz ohne Smartphone.
Ganz ohne mediale Ablenkung erlebte ich den gesamten Martinszug. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie viele Ereignisse ich in letzter Zeit nur durch den verengten Blickwinkel des Smartphones wahrgenommen hatte. Momente, bei denen ich mich, statt sie bewusst und in ihrer Ganzheit zu erleben, auf den kleinen Ausschnitt der Kameralinse beschränkt hatte. Das war gestern anders.
Ich atmete beim Laufen die kalte Abendluft. Ich lief inmitten einer Woge singender Menschen, die liebevoll gebastelten Laternen schwangen durch die Dunkelheit, wie auf einem schwankenden Schiff. Leuchtende Kinderaugen, leuchtende Erwachsenenaugen um mich herum. Die Häuser am Wegesrand mit Laternen und Lichtern geschmückt. Ältere Menschen lehnten aus den Fenstern, winkten der Kindermenge zu und hatten feuchte Wehmut und ein glückliches Lächeln im Auge. Und vor mir, inmitten der Kinderschar der vierten Klassen, sah ich ab und zu die Monsterlaterne des Kleinen aufblitzen.
Die Bilder von diesem Martinszug existieren jetzt allein als Erinnerung in meinem Kopf. Gespeichert auf meiner ganz persönlichen Festplatte. Und das ist schön! Ich möchte zukünftig wieder mehr Momente in ihrer Ganzheit erleben, und nicht nur durch den kleinen Ausschnitt der Smartphonelinse.
Toll geschrieben, das Tagebuch!
Kuss aus dem Wald von einem treuen Leser
Viele Menschen müssten viel öfter ihr Smartphone vergessen. Auf Konzerten, im Karussell und beim Kinderwagen schieben. Technik hat leider auch zwei Seiten und die negativen Seiten können manche noch nicht sehen.
Danke für diesen Bericht, den hoffentlich auch dir “Richtigen” lesen.